Im Gedenken

Jürgen Flimm, der große Theaterkünstler und ehemalige Intendant der Staatsoper Unter den Linden, ist im Alter von 81 Jahren verstorben.

Er war einer der bedeutendsten Theaterkünstler der vergangenen Jahrzehnte, einer der maßstabsetzenden Regisseure im Schauspiel wie in der Oper, dazu ein zentraler Protagonist des Kulturlebens. Auch als Intendant, Ideengeber und Gestalter hat Jürgen Flimm, der am 4. Februar 2023 im Alter von 81 Jahren an seinem Wohnsitz Hamelwörden bei Stade verstorben ist, in vielfältiger Weise die Theaterwelt geprägt, bereichert und weiter entwickelt.

Am 17. Juli 1941 in Gießen geboren und in Köln aufgewachsen, begann die berufliche Laufbahn des studierten Theater- und Literaturwissenschaftlers Ende der 1960er Jahre an den Münchner Kammerspielen, wo er als Regieassistent engagiert war. Mit ersten Inszenierungen trat er Anfang der 1970er Jahre hervor, es folgten Stationen als Spielleiter in Mannheim und Hamburg. Über rund vier Jahrzehnte hinweg übte er Intendantentätigkeiten aus: am Schauspielhaus Köln (1979-1985), am Thalia Theater Hamburg (1985-2000), bei der Ruhrtriennale (2005-2007), bei den Salzburger Festspielen (2006-2010) sowie an der Staatsoper Unter den Linden (2010-2018), stets mit großer öffentlicher Resonanz und viel Zuspruch von Seiten des Publikums. Gemeinsam mit den ihm anvertrauten Ensembles hat er sowohl die Klassiker gepflegt als auch immer wieder Interesse und Mut für Unbekanntes und Zeitgenössisches bewiesen. Mit zahlreichen Regiearbeiten hat er Theatergeschichte geschrieben, sei es im Schauspiel oder in der Oper, der er sich 1978 mit der deutschen Erstaufführung von Luigi Nonos »Al gran sole carico d’amore« zuwandte und die in der Folgezeit verstärkt in den Fokus rückte. Dramen von Shakespeare, Lessing, Goethe, Büchner, Ibsen, Tschechow und vielen weiteren Autoren hat Jürgen Flimm inszeniert, desgleichen Musiktheaterwerke von Monteverdi, Händel, Gluck, Mozart, Beethoven, Rossini, Offenbach, Wagner, Verdi, Strauss und anderen mehr. An nahezu allen großen Opernhäusern hat Jürgen Flimm gearbeitet, u. a. an der Mailänder Scala, am Royal Opera House Covent Garden London, an den Staatsopern von Wien und Hamburg, sehr häufig am Opernhaus Zürich, zudem an der Metropolitan Opera New York, der Lyric Opera Chicago sowie bei den Bayreuther und den Salzburger Festspielen. In Bayreuth inszenierte er 2000 den »Ring des Nibelungen«, in Salzburg, wo er bereits ab 1987 als Regisseur arbeitete und ab 2002 Leiter des Schauspiels war, kamen wichtige Inszenierungen wie Monteverdis »L’incoronazione di Poppea« oder Purcells »King Arthur« hinzu. Mit Nikolaus Harnoncourt verband ihn eine besonders intensive Zusammenarbeit, etwa bei Mozarts Da-Ponte-Opern in Zürich. Ebenso führte er Regie bei Film- und Fernsehproduktionen und war als Schauspieler zu erleben. Als Hochschullehrer an der Harvard University, der New York University und als Professor an der Universität Hamburg prägte und inspirierte er nachfolgende Generationen von Theaterkünstler:innen. Als Präsident des Deutschen Bühnenvereins wirkte er von 1999 bis 2003, auch war er es, der die Anregung gab, das Amt eines Kulturstaatsministers zu schaffen. Mehrere Bücher zeigen Jürgen Flimm als originellen Autor und genauen Beobachter der Theaterszene und des Zeitgeschehens; seine Autobiographie, in den vergangenen Jahren verfasst, konnte er noch vollenden. In seinen Reden wie in seinen Texten hat er immer wieder die Wirkungsmacht des Theaters beschworen, seine Unverzichtbarkeit und Relevanz, auf der Grundlage konzentrierter theoretischer Reflektionen und vielfältiger praktischer Erfahrungen. Mit vollstem Einsatz hat er sich dieser Kunst gewidmet und sie immer wieder neu ins Hier und Jetzt geholt, mit Zugewandtheit und Empathie, analytischem Scharfsinn, Einfallsreichtum, Gedankentiefe und immenser Gestaltungsgabe – und zugleich mit der Kraft, sich und andere zu verzaubern.

An der Staatsoper Unter den Linden hat er 2001 erstmals gearbeitet, als Regisseur einer von Daniel Barenboim dirigierten Neuproduktion von Verdis »Otello«. 2009 wurde er als Berater an das Haus verpflichtet, im Herbst 2010 übernahm er die Intendanz. Während der Zeit der Staatsoper im Schiller Theater, innerhalb von sieben Spielzeiten, in denen das Stammhaus Unter den Linden grundlegend saniert und modernisiert wurde, stand Jürgen Flimm an der Spitze der Institution, die er mit großer Energie und Umsicht leitete, auch und gerade im Blick auf innovative Programmatik. Mehr als 100 Musiktheaterproduktionen sind zwischen 2010 und 2017 verwirklicht worden, auf der großen Bühne wie in der Schiller Theater Werkstatt. Beständige Tuchfühlung zur Gegenwart zu halten, war Jürgen Flimm dabei ein besonderes Anliegen, sowohl in der Auswahl der Werke als auch in der Art ihrer Inszenierung. Sämtliche Epochen der Opernkunst, vom 17. bis zum 21. Jahrhundert (darunter mehrere Uraufführungen), haben Beachtung gefunden, zudem wurden neue Formate sowie Projekte experimenteller Art ins Leben gerufen. Auch die von Jürgen Flimm selbst inszenierten Produktionen, angefangen von »Wissen Sie, wie man Töne reinigt? Satiesfactionen« auf der Werkstattbühne über Händels »Il trionfo del Tempo e del Disinganno«, Mozarts »Le nozze di Figaro«, Glucks »Orfeo ed Euridice« und Puccinis »Manon Lescaut« sind Teil dieser Geschichte und haben großes Echo gefunden. Zudem führte er bei zwei zeitgenössischen Musiktheaterwerken von Salvatore Sciarrino Regie: bei »Macbeth« 2014 auf der Baustelle Unter den Linden sowie 2016 bei »Luci mie traditrici« im Schiller Theater. Zum Wiedereinzug in die alte/neue Staatsoper inszenierte Jürgen Flimm im Herbst 2017 den Abend »Zum Augenblicke sagen: Verweile doch!« mit Schumanns »Szenen aus Goethes Faust«, bewusst als eine Gemeinschaftsarbeit aller künstlerischen Kollektive des Hauses angelegt. 2018 folgte mit »Ti vedo, ti sento, mi perdo« eine weitere Sciarrino-Oper, als Uraufführung der Mailänder Scala in eigener Regie an die Lindenoper gebracht. Zum Ende seiner Intendantenzeit wurde Jürgen Flimm im Frühjahr 2018 zum Ehrenmitglied der Staatsoper Unter den Linden ernannt. Seine letzte Regiearbeit am Haus galt Strawinskys »Geschichte vom Soldaten«, 2018 im Apollosaal in Szene gesetzt, mit ihm selbst als Erzähler. Ein für das Format Linden 21 geplantes Projekt mit Texten von Botho Strauß und Musik von Leoš Janáček konnte hingegen nicht mehr verwirklicht werden.

Als Intendant und Regisseur hat Jürgen Flimm über rund ein Jahrzehnt die Arbeit und die öffentliche Wahrnehmung der Staatsoper Unter den Linden entscheidend geprägt. Das Haus verliert mit ihm einen engagierten, meinungsstarken Streiter für das Musiktheater, einen außergewöhnlichen Künstler und kreativen Vordenker. Mit Bewunderung und Dankbarkeit stehen wir vor dieser Lebensleistung und werden ihm unser ehrendes Andenken bewahren.

Die Staatsoper Unter den Linden