Eine Märchenoper in der Naturkathedrale

Magazin Nr. 2 - 2025/26

„Diese Oper ist eine moderne Märchenoper, vielleicht wie ein Traum“, sagt Daniel Arkadij Gerzenberg über Das kalte Herz. Der Autor und Pianist schrieb das Libretto für Matthias Pintschers Oper, die im Januar 2026 an der Staatsoper Unter den Linden uraufgeführt wird. Darin werden die vielen verschiedenen Stimmungen, Erinnerungen und Gefühle spürbar, die uns Menschen im Wald überkommen, wie Gerzenberg bei einem Wald spaziergang mit Pintscher erzählt: „Gleichzeitig geht es zentral um das Motiv aus dem Märchen Das kalte Herz, in dem ein menschliches Herz durch einen Stein ersetzt wird.“ Doch wie kam es überhaupt zu dieser Oper?

Seit vielen Jahren verbindet den Komponisten und Dirigenten Matthias Pintscher eine intensive Freundschaft mit Daniel Barenboim, der von 1991 bis 2023 als Generalmusikdirektor die Staatsoper Unter den Linden und die Staatskapelle Berlin maßgeblich prägte. Er war es, der Pintscher als Dirigent an die Staatsoper einlud und den Komponisten dafür gewann, eine neue Oper zu komponieren. Ab 2020 dirigierte Pintscher hier mehrere Vorstellungen von Richard Wagners Lohengrin und Der fliegende Holländer sowie die Uraufführung von Beat Furrers Oper Violetter Schnee. Beim Spaziergang erzählt Pintscher, wie ihm die Idee zur Oper bei einem Ausflug in den Schwarzwald kam: „Wir waren mit dem Ensemble Intercontemporain bei den Donaueschinger Musiktagen und ich hatte einen Tag frei.“ Dieses in Paris beheimatete Ensemble für zeitgenössische Musik leitete Pintscher für zehn Jahre. „Auf einmal kamen viele Kindheitserinnerungen zurück von Wilhelm Hauffs Märchen Das kalte Herz, das ich als Fünf- oder Sechsjähriger hunderte Male auf einer Kassette gehört habe. Die Worte kamen zurück, zusammen mit den Empfindungen, die wir mit Wald assoziieren, was es bedeutet, auf eine Lichtung zuzugehen, aber natürlich auch der Zustand von Angst und Horror. Klänge fingen an in mir zu schwingen, wissend, dass ich eventuell eine Oper schreiben würde.“

Wilhelm Hauffs 1827 veröffentlichtes Märchen erzählt von dem Köhler Peter, der sich wünscht, seiner schlecht bezahlten Arbeit entfliehen zu können, um ein wohlhabendes und angesehenes Leben zu führen. Er lässt sich auf einen Handel mit dem unheimlichen Holländer-Michel ein, der ihm Wohlstand ermöglicht, ihm dafür aber ein Herz aus Stein in die Brust setzt, das ihm fortan jede Gefühlsregung verwehrt. Schnell wurde Pintscher klar, dass dieser noch immer faszinierende Stoff einen zeitgemäßen Zugriff erfordert, um auf der Opernbühne heute relevant zu sein. Er suchte das Gespräch mit Daniel Arkadij Gerzenberg, der nach seinem Klavierstudium jahrelang als Liedbegleiter bisher unter anderem beim Heidelberger Frühling, im Pierre Boulez Saal und in der Elbphilharmonie aufgetreten ist und parallel dazu immer auch als Lyriker aktiv an der Schnittstelle von Sprache und Musik arbeitet. Seit 2018 unterrichtet er an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ das Fach Lyrik. In seiner Arbeit als Liedbegleiter sog er unweigerlich die Sprache der Romantik in sich auf, in der auch Hauffs Märchen geschrieben ist. „Und trotzdem war es mir wichtig, aus diesem Fundus heraus für diesen Text eine ganz eigene Sprache zu finden.“ Die intensive Zusammenarbeit mit Pintscher am Libretto, von der beide schwärmen, währte mehrere Jahre, in der „wir uns gegenseitig befeuert haben und ich mir vielleicht, wenn ich den Text allein geschrieben hätte, nicht erlaubt hätte, mich solch einer poetischen Sprache hinzugeben.“

„Diese Oper ist eine moderne Märchenoper, vielleicht wie ein Traum“

Daniel Arkadij Gerzenberg

So entstand ein Text voller Poesie, die der Musik Entfaltungsmöglichkeiten öffnet. Pintscher betont Gerzenbergs Wissen darum, „dass der Text Raum für Klang bereithält, der sich durch die Vertonung verwirklicht.“ Räume, in denen sich seine Musik entfaltet, eröffnet Pintscher seinem Publikum auf besonders faszinierende Weise. Schon als junger Komponist und Dirigent von gerade einmal 20 Jahren zog er mit seinen groß besetzten Orchesterwerken die Zuhörenden unmittelbar in den Bann. Mit den zahlreichen unterschiedlichen Instrumenten des Orchesters erzeugt Pintscher in seinen bisherigen Werken eine emotional wirkende Atmosphäre.

Auch die Partitur von Das kalte Herz verspricht einen Reichtum an vielfältigen Klangfarben, die den geheimnisvollen und auch unheimlichen Spielort des Waldes auf der Bühne und in der Phantasie jeder einzelnen Person im Publikum entstehen lassen werden. Beim Komponieren hatte Pintscher den Klang der Staatskapelle Berlin im Ohr: „Ich darf wirklich sagen, dass das Stück für die Staatskapelle komponiert ist. Der Klang dieses Orchesters kennt die große Farbigkeit, das spontane Musizieren, das spontane Erkennen einer musikalischen Situation und das mit einer großen Flexibilität. Das Orchester hat diesen warmen, dunklen Klang. Und ja, es ist ein deutscher Klang, den dieses Orchester vertritt, und für mich war das auch eine Rückkehr in den deutschen Sprachraum.“ Seit vielen Jahren lebt Pintscher überwiegend in den Vereinigten Staaten, seit der Saison 2024/25 ist er Chefdirigent des Kansas City Symphony Orchestra, mit dem er auch in Europa im Concertgebouw in Amsterdam, der Berliner Philharmonie und der Elbphilharmonie in Hamburg zu erleben war.

Der opulente und feinsinnige Orchesterklang in Das kalte Herz trägt die menschlichen Stimmen auf der Bühne. Pintscher war es bei der Komposition seiner vierten Oper – nachdem er über zwei Jahrzehnte für diese Gattung nicht geschrieben hatte – ein besonderes Anliegen, „den singenden Menschen als sich emotional ausdrückenden Menschen in den Mittelpunkt zu stellen“. Es hat auch mit seinen Erfahrungen als Dirigent von Opern Richard Wagners zu tun, dass er sich nun die Aufgabe stellte, „den Stimmen einen Raum zu geben, in dem sie sich frei bewegen können“. Gerzenberg betont die Einzigartigkeit der Gattung Oper, die Geschichten mit der emotionalen Kraft der menschlichen Gesangsstimme erzählen kann. Deshalb gibt es unter den sieben Figuren in der Oper auch eine Figur, die nicht singt, sondern nur spricht. Sie ist „nicht Teil des Geschehens im Sinne des menschlichen Miteinanders“, erklärt der Librettist. Dieser Azaël ist „sozusagen der Bösewicht“, der Peters Mutter einredet, dass sie ihrem Sohn in einem unheimlichen Ritual das Herz entwenden muss.

Unter anderem zeigt sich hier, wie Gerzenberg und Pintscher Wilhelm Hauffs Märchen verwandelt haben. Peters Mutter spielt eine herausragende Rolle, die sich von Azaël überzeugen lässt, dass ihr auserwählter Sohn in den Bann der Göttin Anubis gezogen werden soll. In diesen beiden übersinnlichen Figuren vereint das Libretto Motive aus den drei monotheistischen Religionen und dem alten Ägypten. Auf Anregung des Regisseurs James Darrah, mit dem Matthias Pintscher unter anderem die Leidenschaft für bildende Kunst verbindet, wird Azaëls Rolle in der Uraufführung von einer Schauspielerin dargestellt, wofür die zuletzt bei den Filmfestspielen in Cannes preisgekrönte Sunnyi Melles gewonnen werden konnte.

„Gleichzeitig geht es zentral um das Motiv aus dem Märchen Das kalte Herz, in dem ein menschliches Herz durch einen Stein ersetzt wird.“

Daniel Arkadij Gerzenberg

Wie in Hauffs Märchen und doch ganz anders und mystischer lässt sich Peter schließlich bereitwillig darauf ein, ein kaltes Herz zu erhalten. „Wenn wir das Herz als Metapher betrachten, dann steht das kalte Herz für die Absenz von Emotion und die Gefühllosigkeit“, erläutert Gerzenberg und sieht in der Herzlosigkeit vieler Menschen in unserer Zeit die erstaunliche Bereitschaft, die eigenen Gefühle aufzugeben. In der vorletzten Szene wacht Peter mit seinem kalten Herz auf und ist nun ohne Gefühle. Der Librettist hat dem Komponisten quasi die Aufgabe erteilt, eine Musik zu schreiben, die gefühllos ist, „was in sich schon widersprüchlich ist. Also wie macht man das?“, wie Gerzenberg selbst gesteht. Verständlicherweise möchten die beiden den Klang dieser Szene nicht mit Worten beschreiben, das muss man sich anhören. Auch hier zeigt sich, wie eng verzahnt die Zusammenarbeit der beiden Künstler war: „Welche Rolle übernimmt die Sprache, welche Rolle übernimmt die Musik?“ Je mehr Pintscher und Gerzenberg über ihre gemeinsame Oper sprechen, desto größer wird das Geheimnis um sie. Wie der Wald, in dem die Oper spielt und in dem sie sich darüber unterhalten.

Ein Ort der Freiheit und des Lauschens sei der Wald, sagt Gerzenberg. „Ich mag es zum Beispiel, mich auf den Boden zu legen und einfach die Blätter zu beobachten. Und zuzuhören, wie das rauscht.“ „Aufgeladene Stille“ klinge im Wald, sagt Pintscher. „Der Wald ist ein spiritueller Ort, fast wie ein Ton.“ Darin erleben wir uns mit unseren komplexen Empfindungen, Erinnerungen, Assoziationen. Uns fallen Märchen ein, aber auch Horrorgeschichten. „Diese Komplexität ist in dieses Stück eingeflossen. Viele Details, aber auch eine große Einheit.“ Denn eigentlich, bringt es Pintscher auf den Punkt, „ist der Wald eine Naturkathedrale.“

von Olaf A. Schmitt

Magazin Nr. 2

January 2026

Aus dem Magazin der Staatsoper Unter den Linden - Nr. 2.

Am 15. November 2025 erscheint die neue Ausgabe des Magazins der Staatsoper mit spannenden Einblicken und Interviews zur nächsten Premiere, der Uraufführung von Das kalte Herz, 100 Jahre Wozzeck und der Staatskapelle Berlin.