Ti vedo, ti sento, mi perdo
In attesa di Stradella
Oper in zwei Akten
Musik und Text von Salvatore Sciarrino
Medien
ERSTER AKT
Rom, im Hochbarock: In einem Saal eines hochherrschaftlichen Palazzo bereitet man eine Aufführung vor. Eine Bühne wird errichtet; die Sängerin, samt mehrerer Choristen und Instrumentalisten, probt die Kantate, die zu diesem Anlass gegeben werden soll. Sie handelt von Entstehung und Wesen der Musik: vom Orpheus-Mythos. Zunächst wird die Vorbeifahrt an der Sireneninsel thematisiert, als Orpheus seine Gefährten vor dem verführerischen Gesang der männermordenden Sirenen bewahren konnte, indem er einen lauten Gegengesang anstimmte.
Der Literat und der Musiker lauschen ungeduldig der Probe. Sie warten auf den berühmten und skandalumwitterten Komponisten Alessandro Stradella, den »neuen Orpheus«, der zur Krönung der Aufführung eine neue Arie versprochen hat. Der Musiker steht Stradellas exzentrischen Neuerungen skeptisch gegenüber, der Literat dagegen sieht darin nichts als lediglich die Suche nach Wahrheit umgesetzt – wie in den Gemälden Caravaggios. Auch die Sängerin entpuppt sich als Stradella-Anhängerin und gibt einige Kostproben seiner Musik.
Derweil zerreißen sich die Diener des Hauses – Solfetto, Finocchio, Minchiello sowie die Dienstmädchen Pasquozza und Chiappina – über Fürst und Fürstin, also den Hausherrn und seine Gattin, sowie über die Gäste das Maul. Sie äffen die hohen Herrschaften und deren merkwürdiges Benehmen nach und tauschen den neuesten Klatsch und Tratsch aus. Unterdessen wird die Probe fortgesetzt. Auch der Musiker und der Literat kommen auf Stradellas exzessives Privatleben zu sprechen: Ihm würden zahlreiche leidenschaftliche Affären, unter anderem zu hochstehenden Damen der römischen Gesellschaft, nachgesagt, die ihn regelmäßig in Schwierigkeiten brächten.
ZWEITER AKT
Auch Jahre später geht die Probe noch immer weiter, ohne dass Stradella aufgetaucht ist. Solfetto und Finocchio warten mit der Neuigkeit auf, dass der Komponist mitsamt seiner neuesten Liebschaft, einer Gräfin, aus der Stadt geflohen sei, aber vom eifersüchtigen Ehemann verfolgt werde. Davon unbeeindruckt wird weitergeprobt.
Schließlich treffen weitere Gerüchte ein: Stradella sei in Turin von Häschern attackiert worden, habe aber – zur Erleichterung aller – den Angriff überlebt und nun ohne seine Geliebte in Genua Zuflucht gesucht. Es scheint aber fraglich, ob er noch seinem Kompositionsauftrag nachkommen könne.
Die Sängerin unterbricht die Arbeit an der Kantate und widmet sich mehreren kleineren Liedern von Stradella, während sich die Dienerschaft gelangweilt fragt, wann die Probe endlich aus sei. Langsam scheint jedoch die Kantate mit der Schilderung von Orpheus’ Ermordung durch die rasenden Bacchantinnen ein Ende zu nehmen.
Unterdessen geraten sich der Musiker und der Literat über die Frage nach der Sinnlichkeit in der Kunst in die Haare. Unterbrochen wird ihr Streit vom Auftritt eines jungen Sängers, der berichtet, dass Stradella ermordet worden sei. Zusammen mit einem Geiger stimmt er einen Klagegesang auf den großen Künstler an.
Damit ist die Probe schlagartig aus, die Choristen und Musiker verlassen den Saal. Der junge Sänger drückt der perplexen Sängerin wortlos ein Notenblatt in die Hand. Im Gehen kommentiert er mit dem Musiker und dem Literaten Stradellas bescheidenen Nachlass. Die Sängerin, allein zurückgeblieben, entziffert die Musik auf dem Papier – ist es die Arie, auf die sie die ganze Zeit gewartet hat?
Die Produktion ist eine Augenweide. Sie ist erst recht eine Ohrenweide.
Berliner Morgenpost, 9. Juli 2018
Jürgen Flimm hat ein wunderbares, hochgradig stilisiertes Panoptikum an Barockgestalten erfunden. Es geht zu wie im surrealistischen Traumtheater.
Berliner Morgenpost, 9. Juli 2018
Laura Aikin bringt uns als Star des Abends vor allem die originellen Kompositionen von Stradella nahe. Charles Workman lässt seinen Tenor in lichte Höhen, aber auch in baritonale Tiefen gleiten. Otto Katzameier hat schon in vielen Sciarrino-Produktionen gesungen und versteht sich wie das Orchester besonders gut darauf, die Töne aus der Stille erwachsen zu lassen. Als Diener sind Sónia Grané, Lena Haselmann und Thomas Lichtenecker eine lustige Truppe.
Berliner Morgenpost, 9. Juli 2018
(…) im Grunde genommen glimmt auch alle Leidenschaft im Warten, gegenüber dem alle Erfüllung immer nur ein schwer zu fassender Funke bleiben wird. Das Warten also ist unsere ungeteilte Aufmerksamkeit wert. Sciarrino, der 71-jährige Sizilianer, hat dafür ein hochfeines Vokabular gefunden, ein Wispern und Seufzen, ein kurzes Klanganschwellen und ein tiefes Luftholen. Bei ihm klingt die Flöte wie zufällig vom Wind geblasen, am Fagott sind es auf einmal die Klappen, die die Musik machen. Und immer scheint Sciarrinos Klanguniversum der Erregungszustände wie von unsichtbaren Wellen bewegt, ozeanisch unterspült, inmitten einer unentrinnbaren Drift.
Der Tagesspiegel, 9. Juli 2018
Sciarrino fügt in seine Oper neu instrumentierte Kompositionen Stradellas ein, die von ganz weit her klingen und doch unmittelbar das Herz berühren wie seine Canzone mit den Zeilen „Verheimlichen lässt sich nicht, die unerträgliche Flamme. Dass ich mein Feuer verberge, ist ein Ding der Unmöglichkeit.“ Die Sänger, allen voran Laura Aikin, geben sich dem gerne hin.
Der Tagesspiegel, 9. Juli 2018