Die Gegenwart der Zwanziger: Über Berg, Lehár und Rundfunkmusik

Magazin Nr. 2 - 2025/26

Im Gespräch mit Generalmusikdirektor Christian Thielemann.

Detlef Giese: Ihre erste Saison als Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden ist vorüber, die zweite hat sehr erfolgreich mit zwei zyklischen Aufführungen von Wagners Ring-Tetralogie begonnen. Für die Staatskapelle Berlin wie für Sie persönlich gab es enorm viel Zuspruch. Wie hat sich denn das Orchester und dessen Klang in diesem vergangenen Jahr verändert?

Christian Thielemann: Gemeinsam haben wir ein weites Feld erschlossen, mit unterschiedlichem Repertoire: mit Mendelssohn und Liszt, mit Bruckner und Strauss, aber auch mit Musik aus den 1920er Jahren, abseits von großer Oper und Symphonik. Solche Ausflüge in eher ungewohnte Bereiche – Operette, Jazz oder auch Varieté – sind für das Orchester sehr produktiv, da sie Perspektiven öffnen und sich spürbar positiv auf die Spielkultur auswirken. Außerdem haben wir die Sitzordnung im Orchestergraben sowie auf dem Konzertpodium verändert, mit hörbarem Effekt. Die Holzbläser sind im Graben nun auf der linken Seite platziert, die Hörner befinden sich dahinter, während die Blechbläser rechter Hand sitzen. Auf diese Weise ist es möglich, regelrechte Stereowirkungen zu erzielen, was bei den Ring-Aufführungen schon deutlich zur Geltung kam. Und da ich die Staatskapelle nun innerhalb der letzten Saison genauer kennengelernt habe, war es möglich, einen enorm differenzierten Klang zu erzeugen, wie ich es noch in keinem von mir dirigiertem Ring zuvor erlebt habe. Wir haben mit viel Freude die Pianissimi ausgekostet – und wenn es klanglich intensiv wurde, dann haben wir das ebenso verwirklichen können. Die Staatskapelle hat da in der Tat eine Meisterleistung geboten.

„Bergs Musik erweist sich als ausgesprochen gesanglich, geradezu ‚spätromantisch’, von großer Ausdruckskraft erfüllt.“

Christian Thielemann

Nach dem Ring steht nun die nächste Herausforderung an, eine Aufführungsserie von Alban Bergs Wozzeck anlässlich von dessen 100. Jahrestag der Uraufführung, hier an der Staatsoper Unter den Linden. Welche Bedeutung hat dieses besondere Jubiläum für Sie und welche besonderen Qualitäten zeichnet dieses Werk aus?

Für mich ist Wozzeck eines der bedeutendsten Musiktheaterwerke überhaupt. Es ist immer noch ein erstaunlich „modernes“ Stück, das auf engem Raum viele Qualitäten versammelt. Beschäftigt man sich ein wenig länger mit der Partitur, so erweist sich die Musik aber auch als ausgesprochen gesanglich, geradezu „spätromantisch“, von großer Ausdruckskraft erfüllt. Ein ganzes musikgeschichtliches Kompendium lässt sich darin finden: Charakterstücke verschiedenster Art etwa, auch traditionelle Formen wie Fuge und Passacaglia sowie die Teile einer Symphonie oder Sonate – und das alles sehr komprimiert und substanzreich. Und dass wir jetzt auf den Tag genau 100 Jahre nach der Uraufführung am selben Ort, in der Staatsoper Unter den Linden, mit einer neuen Vorstellungsserie einer szenisch eindrucksvollen Produktion in hervorragender Besetzung an die Öffentlichkeit treten, ist natürlich ein besonders schöner Brückenschlag zwischen Geschichte und Gegenwart dieses traditionsreichen Hauses.

Vor einer ganzen Reihe von Jahren haben Sie Wozzeck bereits dirigiert. Welche Erinnerungen haben Sie an die damaligen Aufführungen in Italien?

Das war 1989 in Turin, am Teatro Regio, an einem Haus, wo man nicht unbedingt eine Aufführung von Wozzeck erwartet. Ich kann mich noch daran erinnern, dass die Premiere im Februar einem Streik zum Opfer fiel, erst mit der zweiten Vorstellung begann dann die Aufführungsserie, die eine gute Resonanz gefunden hat. Nach mehr als 35 Jahren studiere ich jetzt die Partitur im Grunde komplett neu, auch wenn Manches von damals natürlich noch präsent ist.

Der Uraufführungsdirigent Erich Kleiber, einer Ihrer Amtsvorgänger, hat im Blick auf die Premiere im Dezember 1925 außergewöhnlich viele Proben angesetzt, um mit den Sängerinnen und Sängern und vor allem mit dem Orchester zu arbeiten. Sind die aufführungspraktischen Schwierigkeiten auch heute noch so eminent hoch?

Erich Kleiber halte ich für einen immens wichtigen Dirigenten des 20. Jahrhunderts. Er neigte zu raschen Tempi, man denke nur an seine legendären Einspielungen von Strauss’ Rosenkavalier und Mozarts Figaro mit den Wiener Philharmonikern aus den 50er Jahren. Und dann brachte er einen Klang zustande, der vollkommen unsentimental war. Die Musik von Bergs Wozzeck, deren Bedeutung er als junger Dirigent offenbar mit viel Gespür erkannte, muss ihm in dieser Hinsicht sehr entgegengekommen sein. Die Instrumentierung ist ja nicht luxuriös, gewissermaßen „straussisch“, sondern wesentlich trockener, sachlicher, holzschnittartiger. Ab und an gibt es aber sogar Melodien von fast puccinesker Art, mit großem Atem und weitem Ausschwingen. Nach wie vor schwierig ist es sicherlich, die Haupt- und Nebenstimmen klanglich genau auszutarieren, Berg hat das in seiner Partitur konkret vermerkt und großen Wert darauf gelegt, dass diese mit äußerster Klarheit und Deutlichkeit zu realisieren sind. Rein rhythmisch ist diese vielschichtige Musik durchaus nicht einfach zu dirigieren, man muss schon sehr konzentriert zu Werke gehen. Auf der anderen Seite sind aber viele Passagen auch sehr organisch komponiert und in einen natürlichen Fluss eingebettet, was es dem Dirigenten wiederum ermöglicht, das musikalische Geschehen gut unter Kontrolle zu haben und gestalterische Impulse zu geben.

„Ich denke, dass wir in Zukunft noch des Öfteren mit dem Orchester Ausflüge in eher unbekanntes Repertoire unternehmen werden.“

Christian Thielemann

Bergs Wozzeck gilt als eine der zentralen Opern des 20. Jahrhunderts und zugleich als eine Ikone der „Weimarer Kultur“. Immer wieder ist das Werk auch mit dem Begriff und Phänomen des „musikalischen Expressionismus“ in Zusammenhang gebracht worden. Was hat es damit auf sich?

Der Expressionismus, im Sinne eines übersteigerten Ausdrucks, liegt vor allem im Sujet begründet. Das Stück lässt das Publikum beklommen zurück, im Grunde in einer furchtbaren Stimmung, wenn man sich vollen Ernstes auf den Inhalt der Oper einlässt. Obwohl das Drama Georg Büchners mit seiner ausgeprägten Sozialkritik bereits aus den 1830er Jahren stammt, passte es noch überaus genau in die Zeit der Weimarer Republik mit ihren tiefgreifenden Unsicherheiten, der Arbeitslosigkeit, der Depression, den ganzen prekären Verhältnissen, aber auch dem fieberhaften „Tanz auf dem Vulkan“. Bergs Wozzeck war offenbar ein Werk, das der Gegenwart der insgesamt so widersprüchlichen Zwanziger Gesicht, Stimme und Klang gab.

Mit dem Wozzeck bewegen wir uns mitten im Berlin der Weimarer Zeit. Im Silvester- und Neujahrskonzert wird das auch der Fall sein, wenn Musik aus späten Operetten von Franz Lehár erklingt, aus Friederike, Paganini und Giuditta, den sogenannten „Tauber-Operetten“. Warum gerade diese Programmauswahl?

Ein Lehár-Pasticcio zu entwickeln und zu dirigieren, war ein Wunsch von mir, da ich denke, dass es sowohl für das Publikum als auch für das Orchester eine schöne Sache ist, gerade zum Jahreswechsel. Die Staatskapelle hat in der Vergangenheit kaum einmal Musik von Lehár gespielt – dabei wird es den Musikerinnen und Musikern sehr gut tun, sich einmal in diese Gefilde zu begeben.

Die Werke siedeln ja an der Grenze von Operette und Oper, ohne richtiges „Happy End“. Trotzdem darf das Publikum hinreichend viel Esprit, Humor sowie regelrechte „Ohrwürmer“ erwarten, nicht wahr?

So ist es. Lehárs Musik, gerade aus den genannten drei Werken – hinzu kommt als Eröffnungsstück noch die nachkomponierte klangprächtige Ouvertüre zur Lustigen Witwe – ist populär im besten Sinne, besitzt einen hohen Wiedererkennungswert, verfügt über schmissige, zuweilen auch ein wenig schwermütige Melodien. Es ist eine Musik, die quasi zum Mitsingen geeignet ist – und dieser Charakter soll auch bei diesem Konzert mitschwingen und das Publikum animieren.

Im Februar 2026 steht dann ein weiteres Sonderkonzert der Staatskapelle unter Ihrer Leitung an, mit dem schönen Titel „Musik aus fernen Rundfunktagen“. Was verbirgt sich dahinter?

Es soll ein Ausflug werden in die Kultur der Kurorchester wie es sie etwa in Bad Reichenhall, Bad Kissingen oder Bad Ems lange Zeit gegeben hat bzw. immer noch gibt. Eine qualitativ hochstehende, anspruchsvolle Unterhaltungsmusik wurde und wird da geboten, immer sehr publikumsnah, mit 15 einer großen stilistischen Bandbreite, rhythmischem Schwung und Melodienseligkeit. Operette und Jazz haben da ebenso ihren Platz wie die sogenannte „leichte Klassik“ – und das wollen wir mit unserem Programm auch erreichen. Musik soll erklingen, wie sie sonntagnachmittags im Radio gespielt und von vielen Menschen mit großem Interesse gehört wurde, leichtfüßig von einem Stil zum anderen springend, oft mit tänzerischem Einschlag, aber auch mit der Klangintensität und -schönheit eines großen Opern- und Symphonieorchesters versehen. Ein Stück, das wir spielen werden, die Tänzerische Suite des als Operettenkomponist bekannt gewordenen Eduard Künneke, ist 1929 sogar eigens für den Rundfunk geschrieben worden. Ich denke, dass wir in Zukunft noch des Öfteren derartige Ausflüge in eher unbekanntes Repertoire, das wir dem Vergessen bzw. der Missachtung entreißen wollen, unternehmen werden. Alles gewiss zur Freude des Orchesters wie des Publikums!

Es scheint jedenfalls, dass die Ideen so schnell nicht ausgehen. Und wir können alle miteinander gespannt sein auf die kommenden Aufführungen in Oper und Konzert. Gutes Gelingen dafür!

Das Gespräch führte Detlef Giese.

Magazin Nr. 2

Dezember

Januar 2026

Februar 2026

Sonderkonzert „Musik aus fernen Rundfunktagen“

Christian Thielemann
Dauer: ca. 2 h

Dmitri Schostakowitsch

Suite für Varieté-Orchester

Nico Dostal

Spanische Skizzen für Orchester

Ernst Fischer

Ferientage Suite für Orchester

Eduard Künneke

Tänzerische Suite für Orchester und Jazzband

Besetzung

Sonderkonzert „Musik aus fernen Rundfunktagen“

Christian Thielemann
Dauer: ca. 2 h

Dmitri Schostakowitsch

Suite für Varieté-Orchester

Nico Dostal

Spanische Skizzen für Orchester

Ernst Fischer

Ferientage Suite für Orchester

Eduard Künneke

Tänzerische Suite für Orchester und Jazzband

Besetzung

März 2026

  • Festtage 2026

Der Rosenkavalier

Richard Strauss
Dauer: ca. 4:40 h inklusive zwei Pausen nach dem ersten und zweiten Akt

Besetzung

  • Festtage 2026

Der Rosenkavalier

Richard Strauss
Dauer: ca. 4:40 h inklusive zwei Pausen nach dem ersten und zweiten Akt

Besetzung

April 2026

  • Festtage 2026,
  • Zum letzten Mal in dieser Spielzeit

Der Rosenkavalier

Richard Strauss
Dauer: ca. 4:40 h inklusive zwei Pausen nach dem ersten und zweiten Akt

Besetzung

Symphoniekonzert VI

Christian Thielemann, Julia Kleiter, Konstantin Krimmel
Dauer: ca. 2 h inklusive einer Pause

Richard Strauss

Orchesterlieder

Ludwig van Beethoven

Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 Pastorale

Symphoniekonzert VI

Christian Thielemann, Julia Kleiter, Konstantin Krimmel
Dauer: ca. 2 h inklusive einer Pause

Richard Strauss

Orchesterlieder

Ludwig van Beethoven

Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68 Pastorale

Mai 2026

Die schweigsame Frau

Richard Strauss
Dauer: ca. 3:40 h inklusive zweier Pausen

Besetzung

Die schweigsame Frau

Richard Strauss
Dauer: ca. 3:40 h inklusive zweier Pausen

Besetzung

Die schweigsame Frau

Richard Strauss
Dauer: ca. 3:40 h inklusive zweier Pausen

Besetzung

Die schweigsame Frau

Richard Strauss
Dauer: ca. 3:40 h inklusive zweier Pausen

Besetzung

  • Zum letzten Mal in dieser Spielzeit

Die schweigsame Frau

Richard Strauss
Dauer: ca. 3:40 h inklusive zweier Pausen

Besetzung

Aus dem Magazin der Staatsoper Unter den Linden - Nr. 2.

Am 15. November 2025 erscheint die neue Ausgabe des Magazins der Staatsoper mit spannenden Einblicken und Interviews zur nächsten Premiere, der Uraufführung von Das kalte Herz, 100 Jahre Wozzeck und der Staatskapelle Berlin.